25.06.2020

Die Renaissance der Hinterhöfe

Balkon als Bühne, Nachbarschaft als Publikum
Der Hinterhof wird von den Stadtbewohnerinnen- und bewohnern noch immer stiefmütterlich behandelt und stellt normalerweise einen kaum beachteten Freiraum dar. Diese Introvertiertheit ist der Gegenpol zur Strassenseite, wo sich das alltägliche, öffentliche Leben abspielt und der Verkehr fliesst. Doch durch den verordneten Corona-Lockdown entleerte sich diese Strassenseite auf einmal. Besonders die Aktivitäten von Kreativschaffenden verlagerten sich entweder ins Internet – oder drängten auf einmal in die Hinterhöfe. Denn dort traf man die Nachbarschaft, die durch die Schutzmassnahmen ebenso isoliert lebte, und es entstand ein Austausch von Bedürfnissen:

Der Balkon wurde zur neuen Bühne, die Nachbarschaft zum Publikum. Musikdarbietungen, Vorlesungen und Balkongespräche konnten im neuen „Theater Hinterhof“ verfolgt werden, einige angekündigt, andere spontan. Hier konnte man sich mit genügend Abstand treffen und dennoch nahe sein.

"Es ist beeindruckend, wie sich die Kreativität nicht unterkriegen lässt und immer einen Weg findet, sich auszudrücken"

In meinem Hinterhof gab es eine spontane Darbietung eines Bluesmusikers, der auf seiner Gitarre den Hof zum Erklingen brachte. Anderntags hat ein DJ seine Maschinen angeworfen und die Lautsprecher in den Hof gedreht. Die Technobeats drangen bei mir in die Wohnung und als ich zum Fenster gelangte, sah ich eine belebte Balkondisco, zu der sich ein paar Menschen bewegten. Es ist beeindruckend, wie sich die Kreativität nicht unterkriegen lässt und immer einen Weg findet, sich auszudrücken. Gleichzeitig bot das nach innen – und in den Innenhof – gekehrte Leben uns die Möglichkeit, die eigenen Mitbewohner oder die Nachbarinnen besser kennenzulernen.

Introvertiertheit vs. Ausdruckswille
So transformierten sich in der Coronakrise die intimen Innenhöfe zur Arena. Die Architekturelemente Balkon und Terrasse wurden einer Art Umnutzung unterzogen – sie konnten sich je nach Situation von einer privaten Sitzgelegenheit zu einer Bühne oder Zuschauertribüne wandeln. Es gibt verschiedene Arten von Balkonen: Solche, die vorstehen und eine perfekte Plattform bilden und solche, die ins Gebäude eingezogen sind, die Loggien, die introvertiert sind und sich weniger als Ausdrucksort anbieten.

Die Coronakrise bot uns die Möglichkeit, das Potenzial der Hinterhöfe (wieder) zu entdecken, egal ob brachliegende Grünlandschaft oder betonierter Parkplatz. Gerade in Zeiten von Verdichtung und Pandemien ist der Hinterhof für den Stadtorganismus essentiell. Die Belebung zeigt, wie wertvoll der nachbarschaftliche Austausch ist, um die Lebensqualität zu erhalten oder zu erweitern. Solange wir auf uns achten, hören und miteinander kommunizieren – auch wenn es ab und an im Hinterhof zu lärmigen Situationen und Reibungen kommt.
Elias Aurel Rüedi

Elias ist Architekt und Autor des Buches „Fokus Hinterhof – Einblicke und Perspektiven“ das sich mit der Frage auseinandersetzt: Wo liegt das Potenzial von Hinterhöfen und in welche Richtung könnten sie sich entwickeln? CMV, voraussichtlicher Erscheinungstermin Herbst 2021