04.05.2020

Der Baum vor meinem Fenster

"Als alles schliesst, schiessen sie plötzlich aus dem digitalen und analogen Boden: Eine Zeitschrift wird aus dem Boden gestampft, «Stoff für den Lockdown» heisst sie, ich soll einen Text schreiben, drei Tage habe ich, dann in Druck. Ein Online-Literaturfestival taucht innerhalb von 24 Stunden auf, VIRAL heisst es, ich organisiere in fünf Tagen vier Autorinnen und Autoren; fünf Minuten, nachdem ich mich zum ersten Mal erfolgreich durch unzählige Schaltflächen geklickt habe, zeige ich ihnen, wie sie am Abend ihre Lesungen streamen sollen. Ich habe noch nie so viel kommuniziert wie in dieser ersten Woche. In alle Richtungen, auf allen Kanälen. Keine Zeit für das Romanmanuskript.

Ein Projekt, auf das ich über ein Jahr hingearbeitet habe, ist in der Schwebe. Das Gespräch stottert, mal aus technischen, mal aus menschlichen Gründen. Ich bin aufgedreht von der ersten Woche und ihrer Hauruck-Stimmung, natürlich machen wir weiter, sage ich zu meinem Bildschirm. «Wer weiss, ob das, was wir hier vorhaben, nachher noch relevant ist?» sagt ein verpixeltes Gesicht aus einem Videoviereck. Und schon springt die Frage auf den halbgeschriebenen Roman über, der seit zwei Wochen unangetastet in meinem Laptop liegt.

Die Notizen, die ich noch aus dem Atelier geholt habe, liegen auf dem Stubentisch, der jetzt mein Schreibtisch ist. «Ich weiss nicht, ob das noch relevant ist, nachher, wenn es ein nachher gibt,» sage ich auf dem täglichen Spaziergang keuchend und die Stimme meiner Freundin im Ohr sagt: «Die ganze Situation, in der wir sind, fliesst sowieso in den Text ein, schliesslich bist du die, die den Text schreibt, in dieser Situation.»

"Ich drehe Szenen wie eine Glaskugel vor meinem inneren Auge. Manchmal meine ich zu sehen, wo es weitergeht."

Am Wochenende gehen wir – das einzige, wir das ich zurzeit habe – durch die Wälder ausserhalb der Stadt. Im Gehen kommen wir in dieses produktive Schweigen, in dem manchmal Ideen Form annehmen. Ich drehe Szenen wie eine Glaskugel vor meinem inneren Auge. Manchmal meine ich zu sehen, wo es weitergeht.

Der Lockdown dauert so lange, dass die Zeitschrift der ersten Woche ein zweites Mal erscheint. Diesmal habe ich nicht 3 Tage, sondern zwei Wochen, um einen Text zu schreiben. Zwei Tage vor Abgabe habe ich nichts. Ich gehe durch Quartierstrassen, angeblich auf der Suche. Abends sage ich: «Ich habe nichts.» Und bekomme zur Antwort: «Dann schreib das.» Ich schreibe über den Baum vor dem Fenster und Freundinnen im Ohr und unordentliche Gefühlslagen und wachsende Sehnsucht. Ich gebe den Text rechtzeitig ab. Hinter der Datei mit dem Manuskript steht noch immer «zuletzt gespeichert am 15. März 2020»