13.02.2020

«Die Architektur steht vor einer Zeitwende»

Internationale Klimaforscherinnen und -forscher sind sich einig: Wir haben nur noch bis 2030 Zeit, um dem sich abzeichnenden Klimawandel effektiv entgegenzuwirken. Alles was wir danach unternehmen, wird keinen oder nur einen zu geringen Effekt haben, weil die Veränderung des Klimas dann schon zu viel Fahrt aufgenommen haben wird. Das heisst für uns alle: Umdenken, und zwar jetzt. Wir müssen alles in Frage stellen, was den Klimawandel befördert und stattdessen heute existierende Alternativen verwenden. Wer zu spät kommt, den bestraft das Klima. Analysten bescheinigen konventionellen Autoherstellern wie VW und BMW, die jahrzehntelang den Umstieg zur Elektromobilität boykottierten, um ihre alten Technologien so lange wie möglich zu versilbern, den baldigen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit, während Tesla-Gründer Elon Musk das ganze Interesse der Investoren anziehen und die Branche dominieren wird.

Mangelnde Entdeckerfreude
Genauso stehen die Architektur und die Baubranche vor gigantischen Umbrüchen, nur dass die meisten ihrer Akteurinnen und Akteure bisher nicht wahrhaben wollen, wie radikal sie ihr Handeln ändern müssen – und auch können. Wir können heute bereits viele klimaschädliche Baumaterialien und Produktionsformen ersetzen durch klimafreundliche Alternativen. Dass viele Architektur- und Bauschaffende sich noch dagegen sträuben, beweist bemerkenswerte ethische Indifferenz, mangelnde Entdeckerfreude und eklatante Architekturgeschichtsvergessenheit. Denn auch die Entstehung der modernen Architektur vor gut 150 Jahren war ganz wesentlich durch die Einführung neuer Bautechniken wie die Vorfabrikation und neue Materialien wie Stahl, Beton und Glas motiviert. Dieser technologische Paradigmenwechsel inspirierte Architektinnen und Architekten dazu, mit völlig neuen Formen, Materialien und Typologien zu experimentieren. Das industrielle Zeitalter induzierte also auch eine Erneuerung der Architektur.

«Wir müssen die Baukosten eines Gebäudes endlich in Bezug auf seinen ganzen Lebenszyklus berechnen»

Heute stehen die Architektur und das Bauen vor einer noch viel grösseren Zeitwende. Heute wäre es ökologisch gesehen schlicht zynisch, Gebäude abzureissen, nur weil sie ihre ursprüngliche Funktion verlieren. Vielmehr müssen wir sie von Anfang an so bauen, dass wir sie entweder auf ihre neue Funktion baulich anpassen oder rückbauen können: Das heisst, sie auseinandernehmen und ihre Bestandteile im Sinne der Kreislaufwirtschaft einer neuen Verwendung zuführen können. Architektur wird zu einer Form von „reversibler Konstruktion“, wie der Stuttgarter Ingenieur Werner Sobek sagt. Und deswegen ist ein Gebäude heute vielleicht eher ein temporäres Lager bestimmter Materialien in einer spezifischen räumlichen Konfiguration, so wie LKWs von Speditionsfirmen heute mobile Lagerflächen einer Just-in-time-Produktion geworden sind.

Gebäude als Prozesse betrachten
Wir müssen die Baukosten eines Gebäudes endlich in Bezug auf seinen ganzen Lebenszyklus berechnen, weil die reinen Bauerstellungskosten eben nicht den gesamten ökonomischen – und damit auch den ökologischen – Fussabdruck eines Bauprojektes abbilden. Das reicht von der Gewinnung der Rohstoffe bis zur finalen Entsorgung der verwendeten Baustoffe bei Abriss oder Umbau. Genauso wie wir uns angewöhnen müssen, die graue Energie als Grundlage der energetischen Performance von Architektur zu betrachten, nicht ihre reine Verbrauchsenergie. Anders gesagt: Wir müssen verstehen, dass Gebäude keine Objekte sind, sondern transitorische Momente von Prozessen – und dass Entwerfen heute immer weniger Objektdesign und immer mehr Prozessdesign werden muss.

Andreas Ruby ist Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums in Basel (S AM).
Bild: @Wilma Leskowitsch